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Buch des Monats Mai 2020 - Jean-Paul Sartre in Trier

"Ich habe mich nie so frei gefühlt." - Jean-Paul Sartre in Trier
"Ich habe mich nie so frei gefühlt." - Jean-Paul Sartre in Trier

Hier geht's zum Podcast (MP3). (Musik-Quelle: www.musicfox.com)

Podcast in Kooperation mit:
Agentur textschnittstelle | mediencontent & text Bettina Leuchtenberg M.A.

 

"Im August 1940, mitten in der Zeit des Nationalsozialismus, wurde der Franzose Jean-Paul Sartre als Kriegsgefangener nach Trier gebracht. Sein Ziel war das Stammlager, kurz Stalag, 12 D auf dem Petrisberg, hoch oberhalb der Stadt. Die Zeit der Gefangenschaft prägte den späteren Literaturnobelpreisträger auf ganz eigene Weise.

Der zweite Weltkrieg und der massive Nazi-Terror stellten bestehende europäische Werte und Normen in Frage, wie Gerechtigkeit oder Menschenwürde. Die Menschen waren durch den Krieg entpersonalisiert und entmachtet, wie Gefangene in einem Lager. Als Jean-Paul Sartre die Freiheit entzogen wurde, löste dies in ihm tiefgründige Gedanken aus: Was macht den Menschen frei? Kann man auch in Gefangenschaft frei sein? In seinem großen Werk „Das Sein und das Nichts“ bejaht er die Frage. Die Freiheit sei der Kern der menschlichen Existenz, unabhängig von Umständen. Man möge immer seinen Zielen folgen, seine Werte leben und sich treu bleiben. Der Mensch möge sich immer selbst definieren und sei für seine eigene Existenz und seine Taten verantwortlich, führt Sartre aus. „Wir sind zur Freiheit verurteilt.“, formulierte der Schriftsteller später.

Seine Zeit im Lager schildert Sartre in Briefen an seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir. Am 12. August 1940 schrieb er: „Hier geht immer noch alles sehr gut, ich lese Paul Bourget und arbeite an meinem philosophischen Buch (76 Seiten Manuskript, es nimmt Gestalt an).“ Und einige Tage später: „Wir schlafen zu 15 auf dem Boden und leben hauptsächlich in liegender Position, ich lese im Liegen, ich schreibe im Liegen und stelle mir vor, ein alter Römer zu sein.“ Weitere Briefe machen deutlich, wie intensiv Sartre beschäftigt war und wie er selbst in Gefangenschaft neue Ideen sammelte. So verfasste er hier in Trier zum Beispiel sein erstes Theaterstück.

In seinem Brief an Simone de Beauvoir schreibt er am 26. Oktober 1940:

„Ich bin in einem Lager oben auf dem Hügel, zuerst war ich Sanitär, nun bin ich „Künstler“, ich schreibe Stücke, die ich inszeniere und die man sonntags spielt. Meine besten Freunde sind ein Jesuit und ein Dominikaner, es geht mir nun so gut wie nur möglich.“

Am 10. Dezember 1940 schreibt er ihr:

„Und denken Sie auch daran, dass ich überhaupt nicht unglücklich bin. Stellen Sie sich im Gegenteil vor, was es für einen Schriftsteller bedeuten kann, sein ganzes Publikum zu kennen und genau für dieses Publikum zu schreiben – und für einen Bühnenautor, seine Stücke selbst zu inszenieren und zu spielen (…) Ich lese Heidegger und habe mich nie so frei gefühlt.“

Sartre hielt im Lager auf dem Petrisberg Vorträge über bedeutende Autoren und Philosophen: Rainer Maria Rilke, André Malraux und Martin Heidegger. Ein Mitgefangener und Freund von Sartre – der Priester Marius Perrin – beschreibt die Art des freien Sprechens von Sartre: „Er hatte überhaupt keine Notizen. Er sprach einfach, aber wie einer, der es gewohnt ist. (…) Er sucht die Worte nicht, aber sie sind gewählt. Er zitiert wenig: nur ab und zu eine kurze Formel, einen typischen Ausdruck. Er ist spürbar durchdrungen von der Substanz seiner Texte. Er hat sie gründlich gelesen, er hat sie geprüft. Wie, sage ich mir, hat er sich fern von jeder Bibliothek und in dieser Notlage, in der wir uns befinden, einen so freien Geist, ein so präzises Gedächtnis bewahren können?“

Die Vorträge über Literatur hatten eine besondere Bedeutung: Das Publikum konnte sich für eine kurze Zeit von dem düsteren Alltag im Stalag befreien. Für den Redner war es eine Möglichkeit, die Thesen der Anderen durch seine eigene Weltanschauung zu filtern, die Ideen mit eigenen Worten zu formulieren. Das Fehlen der Bücher hatte Sartres schöpferische Kräfte geweckt: Seine tiefe Suche in sich selbst nach den wichtigen Themen und das innerliche Bearbeiten der philosophischen Fragen ergaben als Ergebnis neue Ideen.

Marius Perrin berichtet, dass das Publikum von Sartre sehr beeindruckt war: „Das Auditorium war gebannt. Ich hatte den Eindruck, dass jeder sich selbst prüfte.“ Sie ahnten nicht, dass der Redner einige Jahrzehnte später mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet werden sollte.

Um seinem Freund Perrin eine Einführung ins Werk Heideggers geben zu können, benötigte Sartre dessen Hauptwerk „Das Sein und die Zeit“. Ein Mitgefangener, der außerhalb des Stalags arbeitete, hatte es geschafft, das Buch heimlich ins Lager zu bringen. Besorgt hatte es der Benediktinerpater Maurus Münch von der Abtei St. Matthias. Pater Münch, ein Gegner des Nazi-Regimes, hatte auch anderen Gefangenen geholfen. Nachdem die Gestapo dies ausfindig gemacht hatte, wurde er verhaftet und 1941 in das Konzentrationslager Dachau transportiert.

Jean-Paul Sartre wurde dank der Unterstützung des Lagerältesten Marius Perrin im März 1941 aus dem Stalag 12 D auf dem Petrisberg entlassen. Sein Weg führte ihn direkt zurück nach Paris.

Erst im Sommer 1953 ist Sartre nach Trier zurückgekommen – zusammen mit seiner Gefährtin Simone de Beauvoir. Den kurzen Aufenthalt beschreibt sie in ihrem Memoiren-Band „Der Lauf der Dinge“: „Sartre zeigte mir auf einer Anhöhe oberhalb Triers die Überreste des Stalags, in dem er gefangen gewesen war. Der Anblick machte großen Eindruck auf mich. Aber der Stacheldraht und die wenigen Baracken, die stehengeblieben waren, sagten mir viel weniger als Sartres Schilderungen.“

Sartre war sich bewusst, wie wichtig die Monate im Trierer Stalag für ihn waren. Diese Zeit verhalf ihm zur Kristallisierung der Thesen seines Hauptwerks „Das Sein und das Nichts“ – dem theoretischen Fundament des Existentialismus. Während seiner Inhaftierung bearbeitete und entwickelte er das Konzept der Freiheit: die Freiheit des Gefangenen, könnte man sagen.

Heute erinnert am Trierer Petrisberg die langgezogene Promenade an den großen französischen Philosophen: die Jean-Paul-Sartre-Straße. Ein sehr guter Ort in Trier, um über die Freiheit des Menschen zu reflektieren."