Sprungmarken

Buch des Monats November 2020 - „Europa ist eine furchtbare Hassfabrik“ – Reiseberichte von Thomas Wolfe

Thomas Wolfe "Eine Deutschlandreise"
Thomas Wolfe "Eine Deutschlandreise"

Thomas Wolfe hat Deutschland zwischen 1926 und 1936 sechs Mal besucht. Der amerikanische Schriftsteller ist zum ersten Mal nach Deutschland gekommen, als er 25 Jahre alt und an der Schwelle seiner Karriere war. Wolfes Familie väterlicherseits stammte aus Deutschland. Daher war der Besuch in dem Land seiner Vorfahren für ihn sehr wichtig. Seine Tagebücher, Erzählungen und Briefe sind vor ein paar Monaten bei Manesse in Zürich neu verlegt worden.

Die liebevolle Beschreibung der besuchten Städte schwelgt zwischen Idealisierung und Kritik. Als er das erste Mal Berlin gesehen hat, notierte er „Niemals hat eine der Weltstädte sich mit meinen Sinnen auf eine so friedliche, liebliche und freundliche Art verbunden wie Berlin. (…) Und hier habe ich mehr als in anderen Städten, die ich auch noch kenne, die Gegenwart von Ruhe, Ordnung und Vertrauen gespürt. Man fühlt sich wie zu Hause.“ Trotz seiner deutschen Wurzel konnte sich der junge Schriftsteller nicht an alles gewöhnen, besonders die Esskultur war ihm fremd „Die Unmengen Fleisch, die sie verzehren, sind ungeheuerlich – und haben mich beinahe zum Vegetarier gemacht“. Trotz seiner Verachtung für übermäßigen Bierkonsum hat er das Oktoberfest in München besucht ,,Das ist wahres Nachtleben – Bier (…) Dies ist das wahre Deutschland – es ist imposant und machtvoll und doch missfällt es mir nach einer Weile“. Wolfe hat bei dieser Gelegenheit selbst auch reichlich getrunken, sich in eine Schlägerei verwickelt und wurde schwer verletzt. „München hat mich beinahe umgebracht“ schrieb er später und listete die Verletzungen in den Brief für seine Geliebte: „Ich hatte eine leichte Gehirnerschütterung, vier Kopfwunden und eine gebrochene Nase“.

Die Begeisterung von Wolfe wurde im Laufe der Jahre immer mehr durch nüchterne Beobachtung ersetzt. Schon bei der dritten Reise nach Deutschland im August 1928 hat er Folgendes geschrieben „Wiesbaden ist von den Engländer besetzt. Man sieht sie überall zu Tausenden. Und abends auf den Terrassen der elegantesten Hotels und des Kurhauses drängen sich die englischen und französischen Offiziere in ihren Galauniformen und essen und trinken reichlich. Was soll das alles? (…) Europa ist eine furchtbare Hassfabrik.“Er hat damals schon ganz klar gesehen, wohin die Konflikte in Europa führen. Im Oktober 1936 hat er seiner Mutter geschrieben: „Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, die Reise zu machen.Den ganzen Sommer über hatte ich das Gefühl, es könnte meine letzte Begegnung mit Europa sein, bevor ein neuer großer Krieg ausbricht. Es ist schwer vorstellbar, wie sie das abwenden wollen. Überall stellen sie gewaltige Armeen auf. Die Munitionsfabriken arbeiten Tag und Nacht. Die Atmosphäre ist von Bitterkeit und gegenseitigen Hass erfüllt.“ Wolfe hat nicht erlebt, wie seine Prophezeiungen wahr wurden. Er starb am 15. September 1938.

Die Reisen und immer schärfere Beobachtungen von Wolfe haben seine Perspektive in mehreren Hinsichten geändert. Wolfe war ein überzeugter Antisemit, trotz der Tatsache, dass seine Gefährtin und Mäzenin Aline Bernstein eine Jüdin war. „In Deutschland hat man beispielsweise die Freiheit, zu sagen und zu schreiben, dass man Juden nicht leiden kann und dass man Juden für ein schlechtes, verkommenes und widerwärtiges Volk hält. In Amerika hat man diese Freiheit nicht“. Ob das tatsächlich eine Freiheit war, hat er später reflektiert und das Thema literarisch verarbeitet. In der Novelle „Nun will ich Ihnen was sagen“ von 1937 beschrieb er die Verhaftung eines Juden im Zug „Und wir waren alle irgendwie nackt und beschämt und irgendwie schuldig. Wir fühlten alle irgendwie, dass wir uns nicht von einem Menschen, sondern von der Menschlichkeit verabschiedeten; nicht einem namenlosem Teilchen einer Materie, sondern vom verblassenden Gesicht eines Bruders.“

Besonders in Corona-Zeiten ist die Lektüre der Wolfes Berichte anziehend - das sorglose Flanieren in München, Frankfurt und Berlin ist heutzutage nicht mehr möglich, von den überfüllten Bierhallen in München ganz zu schweigen. Der Schriftsteller nimmt uns in seinen autobiografischen Prosawerken auf eine wichtige Gedankenreise mit, wo er von einem begeisterten Zuschauer zum mitfühlenden Reisebegleiter wird. Auch in Trier sind Orte, die sich für die Reflektion über die Geschichte besonders gut eignen, wie das seit kurzem eingeweihte Mahnmal in Form eines Koffers in der Rindertanzstraße, das an die Vertreibung der Juden aus der Stadt erinnert. In unruhigen Zeiten, wenn die rechtsextremen Stimmen zunehmen, lohnt es sich, mit Thomas Wolfe auf eine innere Deutschlandreise zu begeben und mit ihm zusammen über die Welt nachzudenken.