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Buch des Monats Juni 2020 - die Tagebücher von Marianne Elikan

"Hier in deiner Heimat, da bist du heute wie fremd?" - die Tagebücher von Marianne Elikan
"Hier in deiner Heimat, da bist du heute wie fremd?" - die Tagebücher von Marianne Elikan

Hier geht's zum Podcast (MP3). (Musik-Quelle: www.musicfox.com)

Podcast in Kooperation mit:
Agentur textschnittstelle | mediencontent & text Bettina Leuchtenberg M.A.

Trier ist in einem ganz fürchterlichen Zustand. Wir waren alle ganz enttäuscht.

Diese Worte schrieb das jüdische Mädchen Marianne Elikan nach ihrer Rückkehr in ihren letzten Wohnort Trier am 17. Juli 1945. Knapp 17 Jahre alt war sie zu diesem Zeitpunkt und sie hatte das Konzentrationslager Theresienstadt überlebt. Wenn man heutzutage über das Kriegsende 1945 nachdenkt, ist man geneigt, dieses Ereignis als ein Happy End zu sehen. Immerhin fand der Holocaust ein Ende, genauso wie das Leiden von Millionen Menschen. In diesem Zusammenhang sind die Tagbücher von Marianne Elikan von besonderer Bedeutung. Denn sie erlauben es uns Leserinnen und Lesern gerade nicht, in einer Komfort-Zone zu verweilen. Sie zwingen dazu, sich mit der Realität der Nachkriegszeit zu konfrontieren.

Im Jahr 1945 war für die überlebenden Juden kein Happy End möglich. Das gilt besonders für die Kinder, deren gesamte Familien umgebracht worden sind. Marianne Elikan war eines dieser überlebenden Kinder. Alle ihre jüdischen Verwandten wurden getötet. Sie hatte keine Ausbildung, kein zu Hause, keine Zukunft. In ihren Tagebüchern beschreibt die junge Autorin ihre bittere Enttäuschung. Marianne Elikan hatte die Jahre in Theresienstadt vor allem in der Hoffnung überstanden, dass sie ihre Familie wiedersehen würde. Zurück in Trier, erkannte sie die Stadt nicht wieder, sie war zerstört. Niemand mochte die junge Frau wiedererkennen, niemand war für sie da:

Tagebucheintrag vom 24. Juli 1945:

Die Zeit vergeht und du bist immer noch alleine. Von keinem Menschen hörst du etwas. Einsam und alleine verlassen bist du jetzt (…) Alles machst du alleine und denkst stets dran: Ach wäre das schön, wenn Deine Eltern da wären. Wenigstens der Vater oder Mutter. Nein, keinen hast du. Noch ich alleine bin da. Hier in deiner Heimat, da bist du heute wie fremd? Trümmer & Trümmer siehst du, keiner erkennt dich oder will dich erkennen. Wozu all dieses Elend. (…)

Marianne Elikan wurde am 29. Juli 1928 in Durlach als Tochter einer jüdischen Mutter geboren. Sie wuchs in einer jüdischen Pflegefamilie in Wawern auf. Während der Reichspogromnacht haben die Nationalsozialisten das Haus ihrer Eltern geplündert. Im Sommer 1939 musste die Familie nach Trier umziehen. Hier wohnte sie in sogenannten Judenhäusern und musste Zwangsarbeit leisten. Marianne Elikan war mit dem Alltagsantisemitismus konfrontiert: sie durfte keine öffentliche Schule mehr besuchen, keine Straßenbahn fahren. Schwimmbäder oder das Theater waren für sie genau wie auch Sportvereine verboten. Sie musste den Judenstern tragen, wurde beschimpft und bespuckt.

An einem kalten Frühlingstag 1942 wurde sie während einer Straßenbahnfahrt verhaftet. Im Anschluss musste sie mehrere Tage ins Gefängnis der Gestapo-Zentrale beim Bahnhof verbringen. Sie war damals 13 Jahre alt. Anschließend wurde sie im Frauengefängnis im Bischof-Korum-Haus festgehalten. Dort verabschiedete sie sich von ihren Pflegeeltern. Sie sah sie dort zum letzten Mal. Sie wurden im Holocaust ermordet. Am 26. Juli 1942, drei Tage vor ihrem 14. Geburtstag, wurde sie von Trier nach Theresienstadt deportiert. Alleine, ohne Eltern.

Seit 1942 hat sie, genau wie Anne Frank, die nur 11 Monate jünger war, Tagebuch geschrieben. Dies half ihr, geistig zu überleben. Zwischen den beiden jungen Autorinnen gibt es große Unterschiede: Anne Frank ist in einer bürgerlichen Familie aufgewachsen und wurde von Kind an intellektuell gefördert. Im Versteck hatte sie viel Zeit zum Lesen und Schreiben.

Marianne Elikan dagegen konnte nur bis zu ihrem elften Lebensjahr eine Schule besuchen. Auch hatte sie kaum Kontakt zu akademisch gebildeten Menschen. Die Eltern konnten kaum schreiben. Erst bei der Zwangsarbeit und in den Trierer Judenhäusern lernte sie kulturell interessierte Frauen kennen. Hier fing sie an, ein Poesiealbum zu führen.

Marianne Elikan spürte in ihren jungen Jahren genug Inspiration und Schöpfungskraft in sich, um mit dem Tagebuchschreiben anzufangen. Hier hören wir Auszüge aus ihren Texten, die sie nach ihrer Rückkehr aus dem Lager Theresienstadt in Trier zu Papier brachte. Es ist besonders tragisch, dass gerade diese Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg so problembeladen war, dass sie ihr Talent nicht weiterentwickeln konnte. Als Minderjährige war sie auf sich alleine gestellt. Und sie musste schnell die Hoffnung aufgeben, ihre Familie – die leibliche und die Pflegefamilie – wiederzusehen.

Am 29. Juli 1945 notierte sie folgende Gedanken, dies ist einer der letzten Einträge in ihrem Tagebuch:

Solch ein Geburtstag wie heute hatte ich schon lange nicht mehr. So schwer. Ich dachte und hatte doch die Hoffnung, dass ich dieses Jahr bei den Eltern sein werde oder dass sie da wären. Jetzt bin ich schon seit 1942 ohne meine Eltern. Damals war ich noch nicht 14. Jahre und heut bin ich 17 geworden. (…) Diesen Kummer den ich hier habe, hatte ich nicht einmal in Theresienstadt.

Wenn wir heute diese Sätze lesen, können wir kaum glauben, dass das Leben nach der Befreiung und im Frieden schwieriger sein konnte als der Alltag im Konzentrationslager.

Hier in deiner Heimat, da bist du heute wie fremd?“, schrieb sie nach der Rückkehr. Wie war das möglich?

Die Vernichtung der Kinder aus Trier lässt sich mit einem Zitat sehr gut verdeutlichen, nämlich mit den Worten des Trierer Theologen und Archivars Dr. Alois Thomas: „Alle aus dem Bischof-Korum-Haus wurden abtransportiert. Wahrscheinlich in der Nacht. Die Trierer merkten es nicht.

Diese Beschreibung zeigt, wie erfolgreich die Propaganda der Nationalsozialisten in Trier war. Sie löschte die jüdischen Kinder aus dem öffentlichen Bewusstsein aus. Marianne Elikan erlebte in Trier Verfremdung und Ghettoisierung. Sie wurde mit dem gelben Stern stigmatisiert und unsichtbar gemacht. Sie hatte keine nichtjüdischen Freunde und Lehrer. Die Trierer merkten es wohl nicht, dass Marianne Elikan und andere Kinder zu den Vernichtungslagern geschickt wurden. Sie merkten auch nicht, dass nur wenige „Unsichtbare“ zurückkehrten.

Auf die Frage von Marianne Elikan: „Wozu all dieses Elend?“ können wir leider nicht antworten. Was wir machen können, ist, sie in Erinnerung zu behalten. Und dafür zu sorgen, dass ihre Geschichte wieder sichtbar wird.