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Buch des Monats Dezember 2020 - Die Märchen der Weltliteratur als Weihnachtslektüre

Märchen der Weltliteratur (Foto: Anja Runkel)
Märchen der Weltliteratur (Foto: Anja Runkel)

Auf die heilende Kraft der Märchen hat in ihrer Nobelpreisrede die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk aufmerksam gemacht.

Als sie am 7. Dezember 2019 ihre Rede „Der liebvolle Erzähler“ gehalten hat, haben wir alle nicht gewusst wie unser Leben im nächsten Jahren aussehen würde. Wenige Tage vorher wurden in Wuhan schon die ersten Personen mit Covid angesteckt, aber wir ahnten noch nicht, dass eine Pandemie im Anmarsch war.

Die Videoaufnahmen vom Dezember letzten Jahres erscheinen heute fast wie ein Märchen: Präsenzveranstaltungen, Menschenmengen ohne Masken, Umarmungen. Die Worte der polnischen Preisträgerin haben in diesem Jahr eine neue Aktualität gewonnen, 2019 hat sie gesagt:

Ich habe häufig das Gefühl, als fehle der Welt etwas, wenn wir sie ausschließlich über unseren Bildschirm erfahren, als werde sie gewissermaßen irreal, zweidimensional, fern und unbestimmt.*

Dieses Jahr werden wir wahrscheinlich im Advent noch mehr vor den Bildschirmen sitzen. Die Adventskonzerte, Treffen mit Freunden auf dem Weihnachtsmarkt, Schlittschuhfahrt am Kornmarkt, Weihnachtsmärchen im Stadttheater, große und kleine Adventsmärkte – alles fällt aus.

Unser heutiges Problem scheint darin zu bestehen, dass wir nicht nur für die Zukunft, sondern auch für das ganz konkrete »Jetzt«, für die rasend schnellen Veränderungen der Welt, noch keine passenden Erzählformen haben. Es fehlt uns die Sprache, es fehlen Sichtweisen, Metaphern, Mythen und neue Märchen.*

Die Märchen bieten uns etwas Wichtiges, das uns die Serien-Dramaturgie nicht geben kann. Die Staffeln und die einzelnen Folgen springen von einem zum nächsten Cliffhanger, wo sich die Hauptpersonen manchmal ändern oder verschwinden, bieten dem Zuschauer kein Gefühl eines guten Ausgangs. Im Gegensatz dazu können Mythen oder Märchen, durch ihre geschlossenen Strukturen, klare Regeln und große Helden in dem Zustand der Unbestimmtheit, in dem wir heute leben, zu einem Gefühl der Stabilität beitragen*.

Was aber immer möglich bleibt, dazu wollte uns auch die Nobelpreisträgerin ermutigen, ist eine Suche nach dem liebvollen Erzähler. Sie erinnert sich an ein Märchen von Hans Christian Andersen über eine Teekanne, dem sie mit glühenden Wangen und feuchten Augen lauschte.

Die Welt liegt im Sterben, doch nicht einmal das bemerken wir. (…) Unsere Spiritualität schwindet, oder sie wird oberflächlich und rituell. Oder aber wir werden zu Gefolgsleuten simpler Kräfte - ob physischer, gesellschaftlicher oder ökonomischer, die uns lenken, als wären wir Zombies. Und in einer solchen Welt sind wir tatsächlich Zombies. Deswegen sehne ich mich nach der Welt der Teekanne zurück.*

In der Zeit der sozialen Distanzierung, die in der Weihnachtszeit besonders spürbar wird, werden wir wahrscheinlich doch vor den Bildschirmen bleiben und die eine oder andere Serie uns ansehen. Was wir aber nicht vergessen sollten, sind die Märchen, die eine schöne Alternative bieten. Schenken wir uns eine Adventszeit mit Begleitung eines liebevollen, zärtlichen Erzählers. Diese Zärtlichkeit hat auch die Teekanne von Hans Christian Andersen zum Sprechen gebracht.

*Alle Zitate nach: Der liebevolle Erzähler: Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur / Olga Tokarczuk ; aus dem Polnischen von Lisa Palmes, Zürich: Kampa, 2020