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Buch des Monats Mai 2021 - „Die Humanität als Religion“ von Samuel Hirsch (Trier 1854)

Ein Gastbeitrag von Elmar P. Ittenbach.

Veni, vidi, audivi - „Die Humanität als Religion" von Samuel Hirsch. (Bildnachweis: Bayerische Staatsbibliothek München, H.g.hum. 110 m, Bl. 2, urn:nbn:de:bvb:12-bsb10435224-0)
Veni, vidi, audivi - „Die Humanität als Religion" von Samuel Hirsch. (Bildnachweis: Bayerische Staatsbibliothek München, H.g.hum. 110 m, Bl. 2, urn:nbn:de:bvb:12-bsb10435224-0)

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Podcast in Kooperation mit:
Agentur textschnittstelle | mediencontent & text Bettina Leuchtenberg M.A.

Die Religion der Liebe und der Toleranz ist ganz gewiß die Religion der Zukunft.

Mit diesen visionären Worten endet ein einzigartiges Buch, das 1854 in Trier veröffentlicht wurde. Das Zitat stammt aus einer Reihe von Vorträgen, die Dr. Samuel Hirsch, der Oberrabbiner des Großherzogtums Luxemburg, 1853 und 1854 vor seinen Freimaurer-Brüdern gehalten hatte. Die neunteilige Vortragsreihe erschien unter dem Buchtitel „Die Humanität als Religion, in Vorträgen, gehalten in der Loge zu Luxemburg“ im Verlag Carl Troschel. Es ist gewiss das ungewöhnlichste Werk, das jemals in Trier gedruckt wurde! Es beginnt gleich mit einem „Paukenschlag“:

Die Religion ist Anthropologie, ist die Lehre vom innersten Wesen des Menschen und der Menschheit.

Laut Hirsch ist Religion für ein menschliches Leben notwendig, darum schreibt er: "Auf die Religion verzichten, heißt alsdann verzichten Mensch zu sein." Hauptmerkmal und Maßstab von Religion bzw. Religionen ist damit das „Humane“, das zutiefst Menschliche. Als Erbe der philosophischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts gehört „Humanität“ zu den Idealen freimaurerischen Denkens, das auf die vollendete Humanität hinstrebt. Dieses Ziel findet sich, laut Hirsch, sowohl im Christentum als auch im Judentum, denn im Zentrum beider Religionen stehe das biblische Gebot der Nächstenliebe. Auf „Augenhöhe“ mit dem Christentum und im Spannungsfeld von freimaurerischem, christlichem und jüdischem Gedankengut entwickelt „Bruder Hirsch“ auf ca. 250 Seiten seine Vorstellungen zur Zukunft der Religion. Grundlegende Bedeutung haben neben der Humanität die Kriterien Freiheit, Toleranz und Liebe. Bei einer „Relektüre“ des Buches bestätigt sich, was Dr. Hirschs jüngster Sohn Emil Gustav Hirsch schon vor mehr als einhundert Jahren dazu schrieb: „Hier ist ein Mann auf der Höhe seiner Zeit, der zu uns in einer modernen Sprache von einer zeitgemäßen Vision spricht.“

Wer ist nun dieser visionäre „Grenzgänger“, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Gerüst einer universalen „Zukunftsreligion“ skizziert, deren Verwirklichung damals und heute kaum vorstellbar, aber dennoch irgendwie notwendig erscheint?

Geboren wurde Samuel Hirsch am 8. Juni 1815 als erstes Kind einer bescheidenen Viehhändlerfamilie im Hunsrückdorf Thalfang. Der offensichtlich sehr begabte Junge besuchte ab seinem dreizehnten Lebensjahr Talmudhochschulen in Metz und Mainz. Als Autodidakt erwarb er die Kenntnisse, die es ihm möglich machten, von 1835 bis 1838 an den Universitäten Bonn und Berlin zu studieren. Schwerpunkte waren dabei evangelische Theologie, Philosophie, Germanistik, Geschichte und Sprachen. 1839 wurde der junge Mann für zwei Jahre auf Probe Landesrabbiner von Anhalt-Dessau. Anschließend lebte er noch zwei Jahre in Dessau und schrieb sein über 800-seitiges Hauptwerk „Die Religionsphilosophie der Juden“, seine Auseinandersetzung mit dem religionsphilosophischen System Hegels. Das erste Kapitel des Buches, die theoretische Grundlegung, genügte der Universität Leipzig, um ihn 1842 zum Doktor der Philosophie zu promovieren.

Ende Juni 1843 führte der Trierer Oberrabbiner Dr. Joseph Kahn seinen Bonner Studienfreund Hirsch als Oberrabbiner von Luxemburg ein. Wenige Tage danach trat Hirsch der Freimaurerloge „Les Enfants de la concorde fortifiée“ als Lehrling bei. Diese Loge „arbeitete“ nach dem französischen Ritus und nahm Juden als Mitglieder auf, im Gegensatz zur Militärloge in der preußischen Festung Luxemburg. Die Intoleranz der preußischen Großlogen, die Juden die Mitgliedschaft versagten, kritisierte Hirsch in etlichen Ansprachen, denn es widersprach dem „Markenzeichen“ der Freimaurer, der Toleranz. Diese Kontroverse kommt auch in den vorliegenden Logenvorträgen zur Sprache. Heftig widerspricht er zudem der Intoleranz der christlichen Kirchen gegenüber den Juden. Es ist darum nicht verwunderlich, dass Toleranz für ihn ein unabdingbares Merkmal einer „Religion der Zukunft“ ist.
1855 erklärte Hirsch seinen Austritt aus der Loge. Ein möglicher Grund könnte der Beschluss der Luxemburger Loge sein, den Begriff des „Großen Baumeisters der Welten“, mit anderen Worten den Gottesbegriff, abzuschaffen.

Das Luxemburger Rabbinat ging 1866 zu Ende, als Hirsch dem Ruf der „Keneseth Israel Reformgemeinde“ im amerikanischen Philadelphia folgte. In der größten Synagoge der USA wirkte Hirsch bis 1888 und wurde zu einer der führenden Persönlichkeiten des Reformjudentums. Er gründete verschiedene Wohlfahrtsorganisationen und „arbeitete“ auch in einer Loge mit, die den Gottesbegriff nicht abgeschafft hatte. In den USA hielt man seine Luxemburger Vorträge für sein bestes Werk. Darum hält er auf dem Porträt seiner Gemeinde in Philadelphia auch dieses Buch in der Hand.
Seinen Lebensabend verbrachte Samuel Hirsch mit seiner Frau Louise in Chicago im Haus des Sohnes Emil Gustav, der Rabbiner der Sinai-Gemeinde war. Dort verstarb er am 14. Mai 1889 – beim Studium eines Buches. 1891 ließ die Sinai-Gemeinde ihrem Ehrenmitglied ein riesiges Denkmal in Form eines Obelisken errichten.
Kommen wir nun zu dem Begriff der „Liebe“ im Konzept von Hirsch. Das anfangs zitierte Wort: "Die Religion der Liebe und der Toleranz ist ganz gewiß die Religion der Zukunft.", bildet die Quintessenz der ganzen Vortragsreihe: Die Religion der Zukunft – oder aller Ausgestaltungen von Religion? – ist unabdingbar verbunden mit den mehrfach genannten Kriterien Freiheit, Toleranz, Humanität und Liebe. Schon im Vorwort stellt Hirsch die Liebe ins Zentrum: "Ob ich die Liebe christlich oder jüdisch nenne, sie bildet doch in beiden Religionen den Mittelpunkt des ganzen Systems."
Für Samuel Hirsch hängt Liebe unmittelbar mit seinem Gottesbegriff zusammen, sie beschreibt die existenzielle Verbindung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen, die ausschließlich von dem liebenden Gott ausgeht. Da für Hirsch alle Menschen gleichwertige menschliche Abbilder Gottes sind, folgt daraus die Achtung vor dem innern Menschen, vor dem selbstbewußten Leben des Menschen und das wiederum heißt negativ ausgesprochen: Morde nicht und positiv ausgedrückt: Liebe. Ganz offensichtlich versucht Rabbiner Hirsch in diesen Logen-Vorträgen die Humanitätsgedanken der Freimaurerei, aber auch die humane jüdische Religion – die Religion des Herzens – mit der „christlichen Religion der Liebe“ auf eine Stufe zu stellen und so den Kriterienkatalog einer „Religion der Zukunft“ zu formulieren.
Darum nimmt auch die Auseinandersetzung mit der christlichen Lehre einen breiten Raum ein; sie findet ihren Höhepunkt in Hirschs Sicht des Juden Jesus von Nazaret. Dieser ist für ihn der Inbegriff eines gläubigen Juden, der den Geist der Tora in vollkommener Weise erfüllte, dessen Leben ganz diesen Prinzipien entsprach. Deshalb lässt Hirsch ihn sagen: "Mein Leben sei ganz Arbeit, ganz Hingebung, ganz Liebe." Diesem überzeitlichen Vorbild der tätigen Liebe gilt es im alltäglichen Leben nachzueifern, und dazu braucht es nicht mehr der „Zucht der Kirche“. Oder wie Hirsch vor mehr als 160 Jahren sagte: "Die Kirche als befehlende Macht ist unserm Bewußtsein fremd geworden." In diesem Sinne kann auch das „prophetische“ Schlusswort verstanden werden:

"Die Religion der Liebe und der Toleranz ist ganz gewiß die Religion der Zukunft. Diese Religion der Toleranz und der Liebe, Paulus selbst hat sie als die Religion geahnt, die kommen wird, „wenn alle in Christus lebendig geworden; auf daß Gott sei Alles in Allem.“ Diese Ahnung, wahrlich unsere Zeit fühlt und erkennt es tagtäglich mehr, daß ihre Aufgabe es ist, sie zur Wirklichkeit zu machen."

Vielleicht ermutigt die anregende Lektüre dieses ungewöhnlichen Buches auch Sie, über „Gott und die Welt“ nachzudenken und die humanitären Gedanken Hirschs ansatzweise zu verwirklichen. Wie sagt Samuel Hirsch:

Beginne Jeder bei sich selbst; nur so ist Besserung für Alle und Alles zu hoffen!

Wir bedanken uns herzlich bei Herrn Elmar P. Ittenbach für den interessanten Beitrag und für die Leihgabe des Buches von Samuel Hirsch für die Ausstellung „Jüdisch? Trierisch! Stadtgeschichten“.

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