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Autor des Monats Juni 2021 - „Günter Grass ist eine handfeste, lustige Nudel“

Veni, vidi, audivi - Günter Grass
Veni, vidi, audivi - Günter Grass

Hier geht's zum Podcast (MP3). (Musik-Quelle: www.musicfox.com)

Podcast in Kooperation mit:
Agentur textschnittstelle | mediencontent & text Bettina Leuchtenberg M.A.

Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, lässt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann.

Diesen ersten Satz kann man nicht vergessen. Der Leser wird direkt zu Beginn mitten in eine merkwürdige Situation geworfen und fragt sich: Kann man dem Erzähler überhaupt glauben? Nicht nur der Anfang des Romans war ungewöhnlich, das Buch selbst hat für Empörung und Begeisterung gesorgt, es war etwas Neues. Nicht alle Literaturkritiker hatten erkannt, dass sie einen der wichtigsten deutschen Romane des 20. Jahrhunderts vor Augen hatten.

Die Blechtrommel wurde 1959 veröffentlicht. Wir müssen uns ein Jahr rückwärts in der Zeit bewegen, um Günter Grass in Trier zu begegnen. Damals wohnte er in Paris. Im Frühjahr 1958 fuhr er nach Danzig, Schauplatz seines Meisterwerks. Den Sommer verbrachte Günter Grass in Italien, im September kam er nach Trier, wo die Förderpreise des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft vergeben wurden.
Damals war die ökonomische Lage der jungen Familie nicht einfach. Günter Grass und seine Frau Anna Margareta hatten im September 1957 Zwillinge bekommen. Die Zeitschriftenhonorare und Theatertantiemen waren nicht besonders hoch. Zum Glück haben sich viele Freunde darum bemüht, dem jungen Ehepaar zu helfen. Einer von ihnen war der Schriftsteller und Literaturkritiker Walter Höllerer. Am 1. Mai 1958 hatte Günter Grass ihn gebeten: „Kannst du mir einen Vorschuss für „Beritten hin und zurück“ mitbringen? Füll doch bitte für mich einen Toto-Schein aus, vielleicht gewinnt Schalke. Werde mir Mühe geben, nicht abseits zu stehen, Dein Torwart Günter.“

Walter Höllerer war gut vernetzt und wies den Kulturkreis im Bundesverband der Deutschen Industrie auf den talentierten Autor hin. Als er sich versichern wollte, ob Günter Grass bereit wäre, einen solchen Preis in Höhe von 2.500 DM anzunehmen, erhielt er folgende Antwort: „Lieber Walter, dass mit 2.500 Eier gefällt mir. Ich ziere mich auch gar nicht und würde den Preis, ohne mit sonst was zu zucken, annehmen.“ Ein Jahr früher hatte sein guter Freund Paul Celan, der zu dieser Zeit auch in Paris wohnte, diesen Preis bekommen - für Grass wahrscheinlich nicht ohne Bedeutung.
Diese Auszeichnung wurde an bekannte Schriftsteller, wie Heinrich Böll im Jahr 1953 und zwei Jahre später Ingeborg Bachmann, verliehen. Bis heute hat der Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft eine große Bedeutung, zu den Preisträgern der letzten Jahre zählen u.a. Wolfgang Herrndorf und Nino Haratischwili.

Aber kommen wir zurück nach Trier. Dank der Briefe von Schriftsteller Rainer Brambach an seinem Freund Günter Eich erfahren wir mehr über das Programm der Preisverleihung in Trier. Brambach wurde auch mit diesem Preis ausgezeichnet: „Im September werden mir in Trier 2500 DM in die Hand gedrückt, und dann fährt die ganze Bagage inkl. nach Reims um dort Champagner zu kosten.“, schrieb er an seinen Freund.

Günter Grass weilte, wie andere Preisträger, zwischen dem 8. und 10. September 1958 in Trier. Klaus Demus war im Gasthof Pieper in der Thebäerstr. untergebracht. Wo Grass wohnte, wissen wir nicht. Die Preisverleihung fand in der Kirche von St. Irminen statt. Der Industriepatriarch und Gründungsvorsitzender des Kulturkreises, Dr. Hermann Reusch, hielt eine Rede und stellte den künftigen Nobelpreisträger vor:
Unter den jüngeren Kräften unserer Literatur ist die Wahl auf vier Autoren gefallen, die mit vielversprechenden Gedichten hervorgetreten sind, die von einer erstaunlichen Originalität zeugen. Einer von ihnen, der daher als Erster genannt sei, überrascht durch eine Vielfalt der Begabungen, die ihn neben seinem lyrischen Schaffen auszeichnen: Günter Grass schrieb außerdem Erzählungen und Dramen, und wir hoffen, dass er sich gerade als Dramatiker durchsetzt, und die deutschen Bühnen – die ohnehin auf der Suche nach schöpferischen Begabungen sind – ihm die Beachtung schenken, die er verdient!

Dann kam es zu der schon genannten Fahrt nach Reims, mit einem Sonderzug für alle Gäste. In der Kathedrale wurde die Psalmenkantate von Karl Michael Komma festlich uraufgeführt, die im Auftrag des Kulturkreises im Bundesverband der deutschen Industrie entstand. Auch ein Champagnerkeller wurde besucht.

Nach der Ehrung berichtete Brambach seinem Freund weiter: „Was hat Nauman über mich geschrieben? Dass ich andauernd blau war? Es gab keine andere Lösung: ich hätte den Rummel sonst nicht ausgehalten (…) Der Günter Grass ist eine handfeste, lustige Nudel, eines Abends machten wir zwei uns schweigend davon. In eine kleine Kneipe natürlich.

In Trier hat Grass vor und hinter den Kulissen viele neue Bekanntschaften gemacht, u.a. den Politiker und Gründungsgeschäftsführer des Kulturkreises Gustav Stein. Stein schätzte die Werke von Grass, u.a. „Die Hundejahre“, wo „man die vielen Gemeinsamkeiten zwischen Kulturträgern und Führungskräften der Wirtschaft“ beobachten kann.

Als Günter Grass nach Trier kam, waren die ersten Kapitel aus „Die Blechtrommel“ bereits geschrieben. Der Autor las sie am 4. November 1958 in Großholzleute im Allgäu bei dem Schriftstellertreffen der literarischen Gruppe 47, einer Plattform zur Erneuerung der deutschen Literatur.
Diese Lesung aus „Die Blechtrommel“ hat ihn bekannt gemacht. Im Festsaal des Gasthofs Adler hat er aus dem 1. und dem 34. Kapitel aus einem dicken Stapel Manuskriptseiten vorgelesen. Alle Anwesenden, darunter auch der später als Literaturpapst bekannte Marcel Reich-Ranicki waren beeindruckt. Später notierte Reich-Ranicki: “Mir haben die beiden Kapitel gefallen, sie haben mich nahezu begeistert.
Mit dreiviertel der Stimmen erhielt Günter Grass den Preis der Gruppe 47 in der Höhe von 5.000 DM. Mehrere Verlagshäuser hatten Interesse an den noch unfertigen Manuskripten angekündigt. „In wenigen Stunden, sozusagen über Nacht, war Günter zu einem bekannten Autor geworden.", erzählte später sein Freund Hans Werner Richter.

Daher kann man fast sagen, dass Trier einer der letzten Orte war, wohin Günter Grass inkognito reisen konnte. Die regionalen Zeitungen hatten seinen Namen nicht erwähnt, was angesichts der vielen prominenten Gäste, wie z. B. dem Bundespräsidenten Theodor Heuss, nicht verwundern kann. Die Presse hatte natürlich auch über die ausgezeichneten Schriftsteller berichtet, hier stand aber der angesehene Lyriker Georg Britting im Fokus. Aber es dauerte nicht lange, bis auch Günter Grass im Rampenlicht stehen sollte.

Ein Jahr nach dem Besuch in Trier, am 24. September 1959, wurde „Die Blechtrommel“ veröffentlicht und Günter Grass schlagartig berühmt. Zwanzig Jahre später wurde der Roman von Volker Schlöndorff verfilmt und erhielt ein Jahr später einen Oskar, was das Interesse an diesem Werk wiedererweckte. Vierzig Jahre nach der Veröffentlichung des Buches wurde Günter Grass mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.
In einer Lesung in Hannover im Jahr 2001 hat Günter Grass über sich selbst gesagt: „Ich bin ein lebenslustiger Pessimist.", als lebenslustig hatte ihn viele Dekaden früher auch Rainer Brambach in Trier bezeichnet.

Wir bedanken uns herzlich bei Frau Hilke Ohsoling von Günter und Ute Grass Stiftung und Herrn Michael Peter Hehl Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg für die freundliche Hilfe.

Gefördert durch:

Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und MedienNeu Start KulturKULTUR.GEMEINSCHAFTENKulturstiftung der Länder

 
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