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Buch des Monats Januar 2021 - Ein Meisterwerk auf 15 Metern Packpapier: „Die Jakobsbücher“ von Olga Tokarczuk

Jakobsbücher (Foto: Anja Runkel)
Jakobsbücher (Foto: Anja Runkel)

Die gleiche Aufgabe hat sich vor zwölf Jahren die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk gestellt, als sie beschloss, die Geschichte des jüdischen Mystikers Jakob Frank (geb. 1726 in Korolówka in Podolien, gestorben 1791 in Offenbach am Main) zu schreiben. Sechs Jahre später, 2014, erschien das Meisterwerk, für das sie 2018 den Literaturnobelpreis erhielt. Allein der Titel gibt einen Vorgeschmack auf das Lesevergnügen: „Die Jakobsbücher oder eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei große Religionen, die kleinen nicht mitgerechnet. Eine Reise, erzählt von den Toten und von der Autorin ergänzt mit der Methode der Konjektur, aus mancherlei Büchern geschöpft und bereichert durch die Imagination, die größte natürliche Gabe des Menschen: den Klugen zum Gedächtnis, den Landsleuten zur Besinnung, den Laien zur erbaulichen Lehre, den Melancholikern zur Zerstreuung.“

Das Buch bietet viel mehr als ein vielstimmiges Portrait von Jakob Frank. Die Erzählungen aus verschiedenen Perspektiven ermöglichen dem Leser, in die multikulturelle Welt Osteuropas des 18. Jahrhunderts einzutauchen. Um 1750 waren zirka 8% der Bewohner Polens und Litauens Juden, dementsprechend hat die jüdische Kultur das Gebiet über Jahrhunderte stark geprägt. Viele von ihnen waren Zuwanderer aus Mitteleuropa, die durch Verfolgungen und materielle Not Zuflucht im Osten suchten, wo die Juden unter dem Schutz der Krone standen und bessere Lebensbedingungen hatten. Tokarczuk nimmt die Wanderungen unter die Lupe, indem sie im Roman viele Persönlichkeiten mit verschiedenen Lebenswegen darstellt. Im Zentrum stehen Jakob und seine Reisen von Podolien nach Smyrna und über Saloniki nach Lemberg und Wien. Zum Schluss erreichten der Mystiker und seine Begleiter Offenbach am Main, wo sie unter der Herrschaft der Isenburger Fürsten einen Zufluchtsort fanden.

Tokarczuk befasst sich mit den religiösen und mystischen Gedanken der Schlüsselfiguren, die aus verschieden Welten kommen. Neben jüdischen Rabbinern und Kabbalisten kommen auch christliche Geistliche, z.B. der Priester Benedykt Chmielowski, der Verfasser der ersten Enzyklopädie in polnischer Sprache und gebildete Frauen wie die Dichterin Elżbieta Drużbacka zu Wort. Die Autorin erweckt nicht nur die Protagonisten zum Leben, sondern auch jüdische Viertel und Häuser voller Lärm und voller Gerüche. Mit großer Zärtlichkeit und Gefühl fürs Detail macht sie die lange verschwundene Welt wieder sichtbar.

Dieser Schmelztiegel der Nationalitäten und Religionen war stark von der jüdischen Wertschätzung der Bildung geprägt, Bücher und Schriften spielen eine große Rolle. Die Nobelpreisträgerin zeigt uns, dass die Literatur und das Wissen ein Baustein für gegenseitigen Respekt und Bewunderung sein können. Wer eignet sich besser, ein Lob für die Bildung auszusprechen als das wandelnde Lexikon Pater Chmielowski. Als er einem Rabbiner Besuch abstattet und feststellt, dass sie sich sprachlich kaum verständigen können, sucht er nach einer Alternative.

„Er möchte, dass ihn sein Gegenüber als Freund ansieht und nicht als Feind. Aber wird er das erreichen können? Vielleicht ist es möglich sich zu verständigen, auch wenn der eine des anderen Sprache nicht spricht, der eine mit des anderen Gebräuchen nicht vertraut ist, auch wenn sie sich persönlich nicht kennen, nicht wissen von Dingen, den Gegenständen des anderen, sein Lachen, seine Gesten, seine Zeichen nicht zu deuten verstehe – vielleicht dass es dann möglich ist, sich mit Hilfe der Bücher zu verständigen? Ist nicht gerade das der einzige Weg?“ meinte die Autorin.

Die Schriftstellerin musste bei der Recherche eine unglaubliche Zahl der Bücher selbst lesen, um die Vielzahl und große Diversität der Akteure ihres Romans ins Leben rufen zu können. Als sie das Material zu ordnen begann, glaubte sie, es seien zu viele Informationen, zu viele Personen, so dass es unmöglich sei, sie alle in eine sinnvolle Erzählung einzubinden. In einer Art literarischer Erleuchtung kaufte sie eine Rolle Packpapier, um dort die komplizierte erzählerische Struktur aufzuzeichnen. Diese Idee funktionierte, zudem war diese Form als Notizbuch auf Reisen sehr praktisch zu transportieren. Nicht zufällig hatten schließlich auch die Thora-Rollen in der Geschichte des Jakob Frank eine große Bedeutung.

Für alle die sich 2021 auf eine Zeitreise begeben möchten, werden im Lesesaal der Wissenschaftlichen Bibliothek im neuen Jahr neben den „Jakobsbüchern“ Bücher über die jüdische Geschichte und Kultur zur Verfügung gestellt.

Das nächste Jahr eignet sich besonders gut um das jüdische Kulturerbe zu bedenken. Wie Pater Chmielowski schon sagte, vielleicht ist eine Verständigung mit Hilfe der Bücher möglich? Vielleicht ist dies sogar der einzige Weg?